Epigraphik am Mittelrhein
von Eberhard J. Nikitsch
Die epigraphische Forschung [1] beschäftigt sich mit auf unterschiedlichsten Materialien ausgeführten Texten [2], die als Inschriften mit ihren jeweiligen Trägern fest verbunden sind und die – im Gegensatz zu mittelalterlichen Urkunden, Briefen oder Chroniken – von ihren Auftraggebern in der Regel für die öffentliche Plazierung an einem bestimmten Standort vorgesehen waren. Daraus ergibt sich der besondere Reiz und die besondere Qualität dieser Quellengattung, ihre Einmaligkeit und auch ihre nicht beliebige Reproduzierbarkeit. So verzeichnen etwa Grabinschriften Namen und Lebensdaten der Verstorbenen; Stifter- und Künstlerinschriften informieren über Auftraggeber, Verfertiger und Stiftungszweck von Kunstwerken; memoriale Inschriften erzählen von zeitgenössisch bemerkenswerten Ereignissen; Rechtsinschriften dokumentieren juristisch bedeutsame Zusammenhänge; Bildbeischriften bezeichnen, verdeutlichen und erläuertern Bildinhalte; Bauinschriften geben den Beginn bzw. die Fertigstellung eines Gebäudes an, berichten aber auch über verschiedene Bauabschnitte und Renovierungsphasen und können zudem über die beteiligten Personen sowie über die näheren Umstände des Bauvorgangs Auskunft geben.
In erster Linie geht es bei diesen hauptsächlich von den Mitarbeitern der Inschriften-Kommissionen der Akademien der Wissenschaften in Deutschland (und in Österreich) durchgeführten und koordinierten Arbeiten darum, die inschriftlichen Zeugnisse des Mittelalters und der frühen Neuzeit an ihren heutigen Standorten oder – falls sie verschollen oder untergegangen sind – in alten Abschriften, als Zeichnungen oder auch als Fotos in Archiven und Bibliotheken aufzuspüren, sie zu sammeln, nach wissenschaftlichen Grundsätzen zu bearbeiten und sie dann sowohl der Forschung als auch der Öffentlichkeit als benutzbar aufbereitetes historisches Quellenmaterial zur Verfügung zu stellen [3]. Um dieses Ziel zu erreichen, werden die meist schwer zu entziffernden, zudem oft stark zerstörten Inschriften zunächst an Ort und Stelle Buchstabe für Buchstabe abgeschrieben, zur Dokumentation fotografiert und dann in einen lesbaren Zustand gebracht, in der Beschädigungen, Auflösungen von Abkürzungen und notwendige Zusätze des Bearbeiters in einer für alle Inschriften-Bände verbindlichen Form gekennzeichnet werden. Die inschriftlich genannten Personen und Orte werden identifiziert; ebenso die beigegebenen Wappen und falls es sich um fremdsprachige (meist lateinische) Inschriften handelt, werden diese übersetzt. In dem die Inschrift erklärenden Kommentarteil werden nicht nur schriftgeschichtliche Phänomene, sondern auch Datierungsfragen und unklare Textstellen diskutiert und insgesamt versucht, die jeweilige Inschrift unter Beachtung der Forschungsergebnisse anderer Diszplinen wie etwa der Sprachgeschichte, der Kirchengeschichte und vor allem auch der Bau- und Kunstgeschichte in den interdisziplinären Zusammenhang zu stellen.
Im Folgenden soll nun anhand einiger ausgesuchter Inschriften aus dem neuen Editionsband, der die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Inschriften des Mittelrheintals behandelt, exemplarisch gezeigt werden, zu welchen erstaunlichen Ergebnissen man unter Beachtung dieser Grundsätze gelangen kann. Ein heute im Bopparder Stadmuseum verwahrter, allgemein als gut bekannt betrachteter Stein mit seiner allerdings undatierten lateinischen Rechtsinschrift (vgl. DI 60 Nr. 13) wurde im Jahr 1850 bei dem endgültigen Abbruch eines verbauten Halbturmes (Turm 25) der rheinseitigen römisch-mittelalterlichen Stadtmauer aufgefunden und bereits wenige Jahre später zuverlässig publiziert. Es handelt sich um einen Quader aus hellem Sandstein mit einer in fünf Zeilen eingehauenen Inschrift, die sich auf der linken Seite – von zwei dünnen senkrechten Linien gerahmt – in kleinerer Schrift in sechs kurzen Zeilen fortsetzt. Der gut lesbare Text ist in Großbuchstaben ausgeführt und lautet [4]:
HEC TVRRIS / PERTINET AD / ILLOS DE INFERI/ORI LOGENSTEIN / IPSI TENENTVR EDI/FICARE EAM P(RO)PT(ER) HOC // IPS/I SV/NT / HIC / COL/WRI
Dieser Turm ist jenen von Nieder-Lahnstein zugeordnet. Diese sind verpflichtet, ihn zu erhalten; deswegen sind sie hier zollfrei.
Diese erstaunliche Inschrift zählt zu einer sehr kleinen Reihe mittelalterlicher Rechtsinschriften, die fundamentale Privilegien oder Vergünstigungen für die Bürger und Einwohner einer Stadt bzw. für die mit ihnen Handel Treibenden enthielten und die deswegen an dem die Privilegien gewährenden Ort monumental ausgeführt und öffentlich sichtbar angebracht waren. Die vorliegende Inschrift gehört dabei zu einer besonderen seltenen Mischform, die Stadtfremden die Pflicht zum baulichen Unterhalt eines Turms der Stadtmauer auferlegt und ihnen als Gegenleistung Zollfreiheit gewährt – hier eben den Bewohnern des einige Kilometer rheinabwärts von Boppard an der Mündung der Lahn liegenden Ortes Niederlahnstein.
Aufgrund des vielschichtigen und überaus interessanten Inhalts dieser Inschrift verwundert es nicht, daß sie in der entsprechenden Fachliteratur öfters zitiert und – da sie keine Jahreszahl aufweist – bei dieser Gelegenheit notgedrungen auch datiert wird. Und genau an diesem Punkt wird die Auseinandersetzung mit dieser Inschrift spannend: Denn es ist natürlich ein fundamentaler Unterschied für die historische Relevanz, ob man diese Inschrift für die Bewertung stadt- und regionalgeschichtlicher Phänomene heranzieht, die vom Ende des 12. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts zu beobachten sind (so die Datierung von Eltester) bzw. nur am Anfang des 13. Jahrhunderts (so die Datierung von Müller), in der 2. Hälfe des 13. Jahrhunderts (so die Datierung von Kraus, der sich Kubach/Verbeek und der 1988 erschienene Kunstdenkmalinventarband angeschlossen haben) oder gar im gesamten 14. Jahrhundert (so die jüngst vorgelegte Datierung von Volk).
Festzuhalten ist, daß in der bisherigen Literatur für die Entstehung dieser Inschrift ein Zeitraum von über 200 Jahren angeboten wird – ein für alle Disziplinen unbefriedigender Zustand.
Da die epigraphische Forschung ihre Kriterien zur Datierung undatierter Inschriften des frühen und hohen Mittelalters hauptsächlich durch den Vergleich der wenigen in diesem Zeitraum sicher datierten Inschriften mit der genauen Beobachtung der sich wandelnden Buchstabenformen gewinnt [5], lassen sich für die vorliegende Inschrift folgende epigraphische Charakteristika feststellen. Die ausgesprochen linear wirkende Schrift zeigt sowohl kapitale als auch runde Buchstabenformen. Im Einzelnen sind zu beobachten: einmal fast spitzes, sonst breites trapezförmiges A mit beidseitig bzw. nach links überstehendem Deckbalken; kapitales und unziales D und E; kapitales und rundes F (letzteres noch mit geradem Schaft); eingerolltes G; links geschlossen unziales M; N mit eingezogenem Schrägschaft; leicht ovales O; R mit weit außen am Bogen ansetzender gerader Cauda; kapitales und rundes T; verschränktes W.
Sucht man nun in der Region nach einigermaßen sicher datierten Vergleichsbeispielen, so stößt man etwa auf den bekannten Willigis-Stein in der Pfarrkirche zu Eltville im Rheingau, der allerdings – wie bereits ein erster Blick zeigt – durchgehend kapitale Schriftformen aufweist und der im Inschriftenband des Rheingau-Taunus-Kreises (vgl. DI 43 Nr. 4) nicht zuletzt aufgrund des epigraphischen Befundes in die Lebenszeit des Erzbischofs Willigis 975 bis 1011 datiert wird. Vielversprechender scheint ein Blick in die bei Michelstadt im Odenwald gelegene Einhards-Basilika zu sein, die dem zu Beginn des 12. Jahrhunderts gut bezeugten Lorscher Abt Benno als unfreiwillige Begräbnisstätte diente. Obwohl seine schlichte Grabplatte nur mit dem Abtsstab und der knappen Sterbeinschrift X K(A)L(ENDAS) MARTII OBIIT BENNO ABBAS (Am 10. Tag vor den Kalenden des März – also am 20. Februar – starb der Abt Benno) versehen ist, sind wir durch eine zweite zuverlässige Quelle, der Lorscher Chronik, einigermaßen genau über den Zeitpunkt seines Todes unterrichtet: Es waren die Jahre 1119 oder 1120. Da man in dieser Zeit in der Regel davon ausgehen kann, daß zwischen dem Todeszeitpunkt und der Herstellung einer Grabplatte für einen Verstorbenen keine große Zeitspanne lag, sowie die Ausführung der Grabplatte und das Formular der Sterbeinschrift zeitüblich stimmig sind, kann es an der Datierung 1119/20 für diese Grabplatte keinen Zweifel geben [6].
Der Vergleich der Buchstabenformen der allerdings nicht sehr sorgfältig ausgeführten Majuskel auf der Odenwälder Abtsgrabplatte mit der Schrift auf dem Bopparder Quader zeigt ohne Zweifel dieselbe klare Linearität, zudem – neben abweichenden Formen – ebenfalls unziales E, ebenfalls nicht mehr kreisrundes O und ebenfalls N mit eingezogenem Schrägschaft. Aufgrund dieses Befundes, vor allem aber aufgrund der grundsätzlichen Beobachtung, daß bei den Schriftformen der Bopparder Inschrift weder eine Neigung zu Bogenschwellungen erkennbar noch eine Tendenz zur Verbreiterung oder Einrollung der Buchstabenenden festzustellen ist, Phänomene, wie sie erst im Verlauf des 13. Jahrhunderts üblich werden, bietet sich für die Bopparder Rechtsinschrift gegen alle bisherigen Datierungsvorschläge eine grobe zeitliche Einordnung in die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts an. Dabei legt der weitgehende Verzicht auf die in diesem Zeitraum durchaus noch üblichen älteren Formen wie spitzes A und eckiges C, vor allem aber die Verwendung des links geschlossenen unzialen M eine genauere Datierung etwa in die Mitte des 12. Jahrhunderts nahe. Diese chronologische Einordnung wird durch vergleichbares Trierer Material zusätzlich gestützt. Aufgrund ihrer typischen Mischung aus kapitalen und runden Buchstaben kann die auf dem Bopparder Quader verwendete Schriftart problemlos als romanische Majuskel bezeichnet werden.
Hinsichtlich der historischen Einordnung dürfte sich das Zollbefreiungsprivileg für Niederlahnstein nicht auf den sehr alten und bedeutenden Bopparder Reichszoll bezogen haben, das nur vom König als Zollherrn gewährt werden durfte, sondern eher auf die Befreiung vom Marktzoll, über den der Rat der damaligen Reichsstadt Boppard selbst verfügen konnte. Wenn auch die näheren Umstände der Entstehung des ungewöhnlichen Rechtsverhältnisses zwischen Boppard und Niederlahnstein letztlich im Dunkeln liegen, so könnte der Grund für diese gegenseitige Vereinbarung darin gelegen haben, daß der Stadt Boppard trotz wachsender Bevölkerung im 12. Jahrhundert der Unterhalt ihrer aus spätrömischer Zeit stammenden Stadtmauer mit ihren vermutlich 28 Türmen aus eigener Kraft nicht möglich war. Die vorliegende Inschrift liefert daher – zusammen mit einer ähnlichen zweiten für das benachbarte Oberwesel – ein wichtiges Indiz für den frühen Beginn der bislang erst für das 13. Jahrhundert angenommenen Ausbesserungs- und Wiederherstellungsarbeiten an der damals bereits rund 900 Jahre alten Stadtbefestigung. Die hier erstmals vorgelegte epigraphische Frühdatierung der Inschrift in die erste Hälfte bzw. in die Mitte des 12. Jahrhunderts wird auch durch die von archäologischer Seite aus gewonnene Beobachtung unterstützt, daß spätestens beim Neubau des Langhauses von St. Severus in der ersten Hälftes des 13. Jahrhunderts mit dem teilweisen Abbruch der nördlichen Stadtmauer zugunsten einer rheinseitigen Stadterweiterung begonnen worden war – eine Pflege der dort stehenden Türme war damit für die Folgezeit natürlich obsolet geworden.
Wenn auch die auffällige Verwendung des kurzen mittelhochdeutschen Wortes COLWRI (zollfrei) anstelle einer zu erwartenden lateinischen Form auf mangelnden Platz auf dem Inschriftenstein zurückzuführen sein dürfte, so bietet es immerhin den ersten Beleg für den Gebrauch der deutschen Sprache in den mittelalterlichen Inschriften des Mittelrheintales. Die lateinische Entsprechung dieses finanztechnischen Begriffs THELONEI ABSOLVTI (vom Zoll befreit) findet sich in der gerade erwähnten, mehrfach in Nachzeichnung überlieferten, lange als verschollen geltenden Schwesterinschrift für die Bürger von Oberwesel. Sie befindet sich noch heute am originalen Standort in etwa 9 Meter Höhe an der nördlichen Seite eines Halbturms der römisch-mittelalterlichen Stadtmauer, der in das 1871 erbaute Haus Burggraben Nr. 4 einbezogen wurde; dort kann im oberen Bereich des Treppenhauses die nun ebenfalls in die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts zu datierende Inschrift (vgl. DI 60 Nr. 14) an Ort und Stelle bewundert werden.
Nebenbei bemerkt, konnte auch aufgrund der eben vorgestellten epigraphischen Beobachtungen ein bislang undatiertes, wohl aus St. Severus stammendes Fragment einer reliefierten Darstellung der Geburt Christi erstmals datiert werden (vgl. DI 60 Nr. 15): Es dürfte Ende des 12./Anfang des 13. Jahrhunderts entstanden sein und weist als Inschrift einen ebenfalls erstmals erkannten leoninischen Hexameter auf HANC PEPERI PROLEM PARTV NON PASSA DOLOREM (Dieses Kind habe ich geboren, aber bei der Geburt keinen Schmerz erlitten); ein Text, der unter anderem auch einen interessanten Einblick in das mittelalterliche Verständnis der Jungfrauengeburt gibt.
Nun nach Oberwesel: Wer dort in der ehemaligen Stiftskirche und heutigen katholischen Pfarrkirche St. Martin seinen Blick nach oben in das mit Wandmalereien geschmückte Gewölbe des Chors richtet, dem leuchtet ein eindrucksvoller, mit 379 Sternen übersäter Himmel entgegen, dazu um die jeweiligen Schlußsteine gruppierte Malereien unterschiedlichster Thematik. So befinden sich etwa in der Paßrosette des westlichen Chorjochs musizierende Engel mit Geigen, Lauten und anderen Instrumenten – mögliche Inschriften sucht man allerdings vergebens. Auch der die Wandmalereien der Martinskirche behandelnde Abschnitt im 1997 erschienenen Inventarband der Oberweseler Kunstdenkmäler beschreibt ausführlich diesen Befund, vermerkt dann allerdings, daß es sich bei dem heutigen Zustand um das Resultat einer 1964 bis 1966 durchgeführten Restaurierung handelt, die den Ende des 14. Jahrhunderts entstandenen ältesten Zustand der Wandmalereien wiederhergestellt habe, freilich auf Kosten der wenige Jahre später in in einer zweiten Schicht aufgemalten Halbfiguren von Aposteln und Propheten. Um es zu verdeutlichen: Diese wohl um 1400 entstandenen Malereien von Aposteln und Propheten sind bei der Restaurierung der sechziger Jahre mit voller Absicht vollständig entfernt worden, um den früheren Zustand des Sternenhimmels wiederherzustellen.
Da als Wandmalerei ausgeführte figürliche Darstellungen erfahrungsgemäß oft von beschrifteten Spruchbändern begleitet werden, geht man in der Regel diesen Hinweisen nach und wird gelegentlich auch fündig: In dem 1930 publizierten, fundamentalen Werk von Paul Clemen über die gotischen Monumentalmalereien der Rheinlande findet sich auf Tafel 78 eine Schwarz-Weiß-Abbildung, die genau diesen Zustand vor der Renovierung zeigt. Zu erkennen sind acht paaarweise gruppierte, als Halbfiguren dargestellte Propheten, die aus einem gefalteten Wolkensaum ragen. Sie sind über ihren mit einer Art Turban bedeckten Häuptern namentlich bezeichnet und halten tatsächlich beschriftete Spruchbänder oder Schriftrollen in den Händen. Die Entzifferung der in gotischer Minuskel ausgeführten Inschriften war zunächst nur in Ansätzen möglich – schon Clemen hatte in seinem Kommentar diese Schriftbänder als fast völlig unlesbar bezeichnet und abschließend festgestellt, daß es nicht mehr möglich sei „einen einheitlichen, allen acht Sätzen zugrunde liegenden Sinn herauszulesen“. Daß diese acht bislang völlig unbekannten Inschriften vollständig entziffert und in dem neuen Inschriftenband erstmals ediert werden konnten (vgl. DI 60 Nr. 60), ist ein unerwartet erfreuliches Resultat dieser Nachforschungen, die allerdings auch durch einen weiteren Fund in Form einer Reihe von Schwarz-Weiß-Fotos im Fotoarchiv des Landesamtes für Denkmalpflege in Mainz vorangebracht wurden, Fotos, die kurz vor der Vernichtung dieser Wandmalereien von einer Mitarbeiterin des Amtes angefertigt worden waren.
Offenbar handelt es sich bei diesen Inschriften um Bibelzitate, die inhaltlich Visionen und Weissagungen der Propheten des Alten Testamentes hinsichtlich des kommenden Christus betreffen. So ist etwa auf dem von dem inschriftlich bezeichneten Propheten Jesaia ausgehenden Schriftband zu lesen Ascendit super altitudinem nubium et montem excelsum (Er steigt über die Höhe der Wolken und den hohen Berg empor), ein Zitat aus Jesaia 14, 14. Merkwürdigerweise ist aber von allen acht Inschriften allein dieses Zitat dem richtigen Propheten zugeordnet, alle anderen Texte stammen aus teilweise abweichend zitierten anderen Bibelstellen oder sogar aus den Schriften der Kirchenväter. So ist etwa die von dem Propheten Daniel ausgehende, etwas dunkle Inschrift Dum venit sanctus sanctorum cessabit vncio vestra (Wenn der Heilige der Heiligen kommt, wird eure Salbung aufhören) als Zitat nicht in der Bibel, wohl aber bei dem Papst und Kirchenlehrer Gregor dem Großen sowie bei dem etwas weniger bekannten karthagischen Kirchenvater Quodvultdeus nachzuweisen.
Ohne jetzt auf die denkmalpflegerische Problematik der ganzen Angelegenheit näher eingehen zu wollen – das wäre eine eigene Untersuchung wert – sei unter dem Eindruck des heutigen Zustandes des Chorgewölbes von St. Martin zumindest soviel angemerkt, daß die in der damaligen Festschrift veröffentlichte Meinung des verantwortlichen Restaurators, die uns hier interessierende Ausmalungsphase mit den Prophetendarstellungen sei „maltechnisch und künstlerisch gleichermaßen unbedeutend“ gewesen, so daß „deren Entfernung kein Verlust eines Kunstwerks war“ die eine Sache ist, die Vernichtung von in ihrer Art einmaligen Inschriften aber auf einem anderen Blatt steht. Und letztlich ist es nur den mehr oder weniger zufällig erfolgten zeichnerischen bzw. fotografischen Dokumentationen zu verdanken, daß diese Inschriften noch zu entziffern waren und sie als bislang unbekanntes Quellenmaterial zum weiteren Nachforschen bereitgestellt werden konnten.
Und nun nach St. Goar: Ich übergehe hier aus verschiedenen Gründen die Behandlung der zahlreichen unbekannten Grabplatten und Grabplattenfragmente, die im Sommer 2001 bei Ausschachtungsarbeiten für den Einbau einer Kirchenheizung im Boden der St. Goarer Stiftskirche aufgefunden wurden; auch diese spannende Sache ist – ausführlich mit Texten und Bildern dokumentiert – im Inschriftenband nachzulesen. Gleiches gilt für die endlich entzifferte erste Zeile und der daraus resultierenden neuen Deutung der zentralen Bauinschrift für den Neubaubeginn der Stiftskirche im Jahr 1444 (vgl. DI 60 Nr. 71) und ihren Zusammenhang mit der Einrichtung der späteren landgräflich-hessischen Grablege, zu deren spannender Konzeption sich Josef Heinzelmann demnächst in einem Aufsatz im Jahrbuch für Westdeutsche Landesgeschichte äußern wird. Vielmehr soll noch auf ein bislang unbeachtetes Detail eingegangen werden, das auch bei der Lektüre des entsprechenden Katalogartikels leicht übersehen werden kann und das stellvertretend dafür stehen soll, was sich als Nebenprodukt aus der Arbeit mit den Inschriften an neuen Erkenntnissen ergeben kann.
Auch Glocken tragen bekanntlich Inschriften und im Fall der beiden erhaltenen Glocken im Westturm der heutigen evangelischen Stiftskirche in St. Goar, war es für die wissenschaftliche Edition eigentlich nur noch erforderlich, den Wortlaut der beiden gut dokumentierten und oft veröffentlichten Inschriften an den Originalen aufzunehmen und ihn mit den bisherigen Lesarten zu vergleichen. Die beiden Glocken wurden wohl von der Stiftsgeistlichkeit in Auftrag gegeben und im Jahr 1506 von dem sonst im Trierer Raum tätigen Meister Wilhelm von Rode gegossen.
Während die etwas kleinere Glocke eine in deutscher Sprache abgefassten, für das Rheinland typischen Inschrift versehen ist, die ihre Funktionen nennt (vgl. DI 60 Nr. 155), erhielt die größere Glocke (vgl. DI 60 Nr. 154) eine weitaus kompliziertere, mit drei lateinischen Hexametern beginnende Inschrift:
sancte · goar · domini · confessor · et · alme · sacerdos propicivs · nobis · tv · peccatoribvs · assis ·hvivs · vasis · tactvs · depellat · demonis · actvs · /
Heiliger Goar, Bekenner des Herrn und segenspendender Priester, stehe uns Sündern gnädig bei. Der Schlag dieser Glocke möge die Taten des Dämons vertreiben.
Dann folgen noch der Gießervermerk und das Gußjahr in Prosa:
conflata · svm · a · wilhelmo · de · rode · ad · lavdem · dei · et · beati · goaris · confessoris · hvivs · ecclesie · patroni · incliti · anno · domini · mo · ccccco · vio
Ich bin gegossen worden durch Wilhelm von Rode zum Lob Gottes und des heiligen Bekenners Goar, des berühmten Patrons dieser Kirche, im Jahr des Herrn 1506.
Doch nicht nur die metrische lateinische Inschrift mit ihrer ungewöhnlich starken Betonung des hl. Goar macht diese Glocke interessant, es sind auch die zahlreichen Reliefs, die als Schmuck die Flanke der Glocke zieren. Insgesamt neun unterschiedliche Reliefs lassen sich unterscheiden, darunter auch die nebeneinander angeordneten der hl. Barbara mit dem Turm, der Muttergottes im Strahlenkranz mit dem Kind im Arm sowie der hl. Margarethe mit dem Drachen. Und darunter – als große Überraschung – ein bislang unbeachtetes Relief des hl. Goar mit seinen bekannten Attributen Kirchenmodell und Kelch sowie dem Höllendrachen, sein spezielles Attribut. Daß es sich aber um kein gewöhnliches Relief wie bei den anderen handelt, zeigen die vier seitlich angebrachten winzigen Ösen: Zweifellos haben wir hier den Abguß eines sonst unbekannten Wallfahrtszeichens vor uns, das – wie die weiteren Nachforschungen ergeben haben – auf dieser St. Goarer Glocke bislang zum ersten und einzigen Mal überhaupt nachzuweisen ist. Dieser Fund ist umso wichtiger, als damit der einzige reale Beleg für die sonst nur indirekt für das späte 15. Jahrhundert bekannte Wallfahrt zum Grab des hl. Goar in der Krypta der Stiftskirche vorgelegt werden kann.
Abschließend möchte soll an einem letzten Beispiel gezeigt werden, welche epigraphischen Überraschungen das sorgfältige Studium von vermeintlich bekannten Archivalien bieten kann.
Conrad d'Hame, einer der letzten Pröpste des weithin berühmten Benediktinerinnen-Klosters Marienberg bei Boppard, das nach wechselvollem Schicksal heute leider zur Ruine zu verkommen droht, verfaßte in den Jahren 1772 und 1773 mit eigener Hand ein vielbändiges Kompendium, das er "Confluvium historicum", einen "historischen Zusammenfluß" nannte und in dem er folglich alles zusammenführte, was ihm für die Geschichte des Klosters wichtig schien: So gab d‘Hame das Kloster in einer sorgfältig ausgeführten Zeichnung aus der Vogelperspektive wieder, schrieb die im Klosterarchiv vorhandenen Kaiser-, Königs- und Papsturkunden ab, zeichnete die anhängenden Siegel, stellte aus den Privaturkunden und den Totenbüchern sowie aus den Inschriften der Grabdenkmäler chronologisch geordnete biographische Skizzen der Äbtissinnen und der Nonnen zusammen und gab erfreulicherweise nicht wenige dieser Grabdenkmäler auch zeichnerisch wieder, wie etwa das längst untergangene Epitaph des 1598 im Alter von 33 Jahren bei der Wiedereroberung von Buda in Ungarn gefallenen Georg Freiherrn Beyer von Boppard (vgl. DI 60 Nr. 258), mit dem die für Boppard so bedeutsame Familie der Beyer von Boppard im Mannesstamm ausstarb.
Neben seinen Nachforschungen im Kloster muß der Propst aber auch unten in der Stadt nach verwertbarem Material gesucht haben; so finden wir ihn überraschenderweise auch als Inschriftenüberlieferer in der Karmeliterkirche und in der Pfarrkirche St. Severus. Und eben dort sah er noch im Jahr 1773 ein heute ebenfalls längst untergangenes, bis dahin nirgends sonst erwähntes Grabdenkmal (DI 60 Nr. 194) eines seinerzeit offenbar hochberühmten Bopparders, zeichnete dessen Wappen ab und notierte sich dessen in sieben Distichen abgefaßte Inschrift:
Originaltext | Übertragung |
Hic sua Christophorus tegit Eschenfeldius ossa | Hier hat Christoph Eschenfelder seine Knochen bedeckt, |
Qui pietate fuit magnus et ingenio | der groß war an Frömmigkeit und Begabung, |
Trevericis qui principibus dum vita manebat | und der den Trierer Fürsten während seines ganzen Lebens |
Consilio curis profuit atque fide | durch Rat, Bemühungen und Treue nützte. |
Hunc Boppardia praefectum celebremque telonam | Diesen sah Boppard als Amtmann und es sah ihn |
Lustris plus octo vidit adesse sibi | mehr als acht Lustren (40 Jahre) als Vorsteher des bedeutenden Zollhauses. |
Dilectus populo vixit sine labe quaerelae | Er lebte vom Volk geliebt ohne die Schande |
Ullius iustae pacis amator erat | irgendeiner berechtigten Klage und war ein Liebhaber des Friedens. |
Hunc desiderius scriptis celebravit Erasmus | Diesen hat Erasmus voll Sehnsucht mit Schriften gefeiert |
Atque aliquorum fama probata viget | und sein trefflicher Rat blühte für so manchen. |
Quinquaginta annos servans connubia prima | Fünfzig Jahre bewahrte er die erste Ehe |
Tandem convivis iubila grata dedit | und gab endlich für die Gäste eine schöne Jubelfeier. |
Huic postquam vitae bis septem lustra peregit | Nachdem er zweimal sieben Lustren und sieben Jahre (77 Jahre) seines Lebens vollbracht hatte, |
Annos et septem transiit ad superos | ging er zu den Himmlischen hinüber. |
Anno domini 1547 27 Aprilis | Im Jahr des Herrn 1547, am 27. April. |
Wer war nun dieser Eschenfelder und welcher Erasmus hat ihn gefeiert?
Der laut Inschrift im Jahr 1470 geborene Christoph Eschenfelder stammte – wie wir aus anderen Quellen wissen – vermutlich aus dem hessischen (Groß-)Gerau und wird erstmals 1502 als Mainzer Notar im Bezirk Limburg bezeugt. Am 1. August 1513 zum kurtrierischen Zollschreiber und später auch zum Amtmann in Boppard ernannt, übernahm er ab 1519 zusätzlich noch die Verwaltung des ehemals sponheimischen Zollanteils. Seine bedeutende Position in der kurfürstlich-trierischen Finanzverwaltung hinderte ihn offenbar nicht daran, literarische und philosophische Studien zu treiben, die zu einem ungewöhnlichen, auch in seiner Grabinschrift nachwirkenden Zusammentreffen führten. Als Erasmus von Rotterdam im Jahr 1518 während einer Schiffsreise an der Bopparder Zollstelle Halt machen mußte, wurde er von Eschenfelder erkannt und in das Zollhaus gebeten, wo unter den Zollpapieren auch die Bücher des Erasmus lagen. Die kurze, aber intensive Begegnung muß auf den berühmten Humanisten einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben, da er mit dem gebildeten Bopparder Zollschreiber nicht nur einen langjährigen Briefwechsel begann, sondern ihm auch seine letzte Schrift „De puritate ecclesiae Christianae“ widmete. Zudem wurde Eschenfelder durch die Bekanntschaft mit Erasmus – gemeinsam mit dem ebenfalls humanistisch tätigen Bopparder Geistlichen Johann Flaming – schnell zum Anlaufpunkt für die den Rhein bereisenden Humanisten.
Schon diese wenigen Beispielen haben verdeutlicht, wie interessant und lohnenswert es in vielerlei Hinsicht sein kann, sich mit epigraphischen Methoden den oft unbeachteten Inschriften des Mittelalters und der frühen Neuzeit zu nähern und sie der Öffentlichkeit wie der Wissenschaft als benutzbares Quellenmaterial zur Verfügung zu stellen.
Anmerkungen
[1] Bei dem folgenden Text handelt es sich um einen vom Verfasser am 2. April 2004 in Boppard gehaltenen Vortrag anläßlich der öffentlichen Vorstellung des von ihm erarbeiteten Buches „Die Inschriften des Rhein-Hunsrück-Kreises I (Boppard, Oberwesel, St. Goar)“, das im Dr. Ludwig Reichert Verlag in Wiesbaden als 60. Band der interakademischen Editionsreihe „Die Deutschen Inschriften“ (DI) erschienen ist. Der Text wurde für die vorliegende Druckfassung überarbeitet, auf den wissenschaftlichen Apparat zu den dort behandelten Inschriften jedoch weitestgehend verzichtet, da dieser in der erwähnten Publikation ausführlich geboten wird.
[2] Vgl. dazu Rudolf M. Kloos, Einführung in die Epigraphik des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Darmstadt 21992 (erg.).
[3] Vgl. zur Struktur des Unternehmens immer noch Walter Koch, 50 Jahre Deutsches Inschriftenwerk (1934 – 1984). Das Unternehmen der Akademien und die epigraphische Forschung, in: K. Stackmann (Hrsg.), Deutsche Inschriften. Fachtagung für mittelalterliche und neuzeitliche Epigraphik (Lüneburg 1984). Vorträge und Berichte (Abh. der Akademie der Wissenschaften in Göttingen 151,3). Göttingen 1986, 15-45 sowie das aktuelle Verzeichnis der 60 bisher erschienenen Inschriftenbände unter www.reichert-verlag.de.
[4] In runden Klammern stehen die Auflösungen von Abkürzungen; die Schrägstriche markieren das jeweilige Zeilenende.
[5] Vgl. zur im Folgenden verwendeten Terminologie Deutsche Inschriften. Terminologie zur Schriftbeschreibung, erarbeitet von den Mitarbeitern der Inschriftenkommissionen der Akademien der Wissenschaften in Berlin, Düsseldorf, Göttingen, Heidelberg, Leipzig, Mainz, München und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien. Wiebaden 1999.
[6] Ausführlich nachzulesen wird dies alles in dem Inschriftenband des Odenwald-Kreises sein, der im nächsten Jahr von meinem Kollegen Dr. Sebastian Scholz vorgelegt werden wird.